Das »New England Journal of Medicine« ist unter den Zeitschriften der Branche das, was ein Bösendorfer unter den Tasteninstrumenten ist. Es war also zu erwarten, dass das amerikanische Blatt der internationalen Fachwelt andere Leckerbissen zu bieten haben würde, und in der Tat, man wurde nicht enttäuscht. Wenige Monate später wusste ein gewisser Fred Levit, Arzt in Chicago, von einem Leiden zu berichten, welches vorab das weibliche Geschlecht befiel, das der neuen Sportart huldigte: entzündete Brustwarzen. Er analysierte das Phänomen als simple Reizung der Brustwarzen infolge von Reibung gegen die Kleidung und wies darauf hin, dass davon Frauen betroffen waren, die beim Joggen keine Büstenhalter trugen. Er riet ihnen, die Brustwarzen vor dem Laufen mit einer fettenden Salbe zu bestreichen oder mit Talk einzupudern, um die Reibung zu reduzieren, sowie Blusen aus glattem Material wie Seide oder Synthetik zu tragen anstelle der T-Shirts.
Dieser Rat indes sollte nicht unwidersprochen bleiben. Nun war eine Debatte in Gang gesetzt, dem Forscherdrang freier Lauf gelassen. Marshall E. Deutsch, ein Kollege aus Bedford, warnte die Leser des Journals entschieden vor der Verwendung von Talkpuder. Talk sei chemisch nah verwandt mit dem krebserzeugenden Asbest und enthalte mikroskopisch kleine Teilchen dieses Stoffes. Der in Japan verbreitete Brauch, den Reis mit einer Mischung aus Talk und Glukose zu bestreuen und vor dem Kochen nicht mehr als dreimal zu spülen, sei vermutlich ein Grund für die Häufigkeit von Magenkrebs unter japanischen Männern. Asbestpartikel seien selbst in herausoperierten Eierstöcken gefunden worden - die Überreste von Talk, mit dem Kondome eingepudert sind.
In derselben Nummer publizierte ein anderer Fachmann, Noel D. Nequin aus Chicago, eine ausführliche Statistik über die Verletzungen, welche sich Marathonläufer zugezogen hatten. Blutende Brustwarzen waren noch das mindeste.
Die Sache begann, ihre Reize zu entfalten. Ich las die Zahlen wie ein Börsenspekulant, der auf dem richtigen Kurs segelt. Es war ganz offensichtlich: je schneller die Leute rannten, desto rascher kamen sie irgendwelcher Gebrechen wegen zum Stillstand. Aber statt dass man daraus den Schluss gezogen hätte, den die Vernunft gebietet - nämlich alles hastige Tun zu lassen und die subtilen Freuden eines kontemplativen Lebens zu geniessen -, wurden nur Ratschläge zur blossen Symptombekämpfung gegeben, wie zum Beispiel das Tragen gut geschnittener weicher, dehnbarer Baumwollbüstenhalter beim Joggen oder das Überkleben der Brustwarzen mit Pflaster.
Ein anderer Leserbrief gab einen Eindruck davon, dass dies alles noch gar nichts sei im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte. Jim Katzel und Aldis Baltins aus Willis, Kalifornien, schilderten den Fall einer 24jährigen Frau, die ihre «Muskelschmerzen» sozusagen wegzujoggen versuchte, bis sie kaum mehr in der Lage war, auch nur noch zu stehen. Beidseitige Ermüdungsbrüche der inneren Schienbeinplateaus wurden diagnostiziert. Ihr wurde empfohlen, künftig Zurückhaltung zu üben, sowohl was das Gehen wie was das Stehen betrifft.
Bei einem unserer Patient waren beim Schnellstart zum Dauerlauf dem jungen Mann beide vorderen Darmbeinhöcker ausgerissen, erst der rechte, ein Jahr später dann der linke. Auf die Frage an den chirurgischen Oberarzt, was der Patient getan habe, um sich solche Frakturen zuzuziehen, antwortete dieser, der junge Mann habe nichts Besonderes gemacht, er sei «nur gerannt». - Eben.
Dass auch Personen, die sich nachweislich von jeder sportlichen Aktivität fernhalten, zu Opfern eines übertriebenen Fitnessbewusstseins werden können, zeigt eine Untersuchung von Janet T. Wallace von der Universität in Bloomington im amerikanischen Bundesstaat lndiana: Wenn Säuglinge nicht gestillt werden wollen, muss man nicht gleich an eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung denken. Ursache kann schlichtweg sein, dass die Muttermilch sauer geworden ist. Bekanntlich erhöht sich nach starker körperlicher Anstrengung die Konzentration von Laktat, dem Salz der Milchsäure, in der Muttermilch. Die amerikanische Forscherin führte Messungen der Laktatkonzentration vor dem Sport, nach mässigem Jogging oder nach leichten Aerobicübungen sowie nach grossen körperlichen Anstrengungen auf einem Laufband an 23 stillenden Müttern durch. Schon leichte Übungen führten zu einem Anstieg der Laktatkonzentration. In 17 Prozent der Fälle wurde eine Konzentration erreicht, die ein Erwachsener im Geschmackstest als sauer empfindet. Folge des mütterlichen Bewegungsdrangs: Die Säuglinge traten in den Hungerstreik.
Verfasser: Dr. G. Stuckmann