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Vom Risiko der Fitness 1

Oder die heiteren Invaliden.

 

»No Sports, only whisky«

(W. Churchill, die Frage nach dem Grund für sein hohes Lebensalter beantwortend)

 

Teil 1

Nur wenig lässt sich mit den Genüssen vergleichen, die ein luxuriöses Essen in angenehmer Gesellschaft, die Beschäftigung mit einer Flasche Bordeaux oder die Lektüre medizinischer Fachzeitschriften bietet. Das Studium der Leiden, die man selbst nicht hat, steigert die Daseinsfreude beträchtlich. Dies ist auch der Grund, weshalb sich mancherorts die Röntgenbesprechung der (Unfall-)Chirurgischen Klinik grosser Beliebtheit erfreut, besonders am Montag, wenn dort die Folgen von allerlei Wochenend-Aktivitäten zu besichtigen sind. Ein schlechtes Gewissen braucht man deswegen nicht zu haben, denn heutzutage werden die Leute krank, weil sie so viel für ihre Gesundheit tun. Die Opfer von Freizeit, Sport und Fitness tragen ihr Los - sofern sie dazu noch in der Lage sind - wie eine Trophäe vor sich her; der Mann indes, dem Leib und Leben lieb sind, weiss die gesundheitsfördernden Wonnen der Bequemlichkeit zu schätzen.

Mein Interesse an entsprechender medizinischer Fachliteratur wurde eben in der Zeit geweckt, als die Leute plötzlich wie wild in der Gegend herumzurennen begannen. Meine sonntagnachmittäglichen Begegnungen mit Personen, die mit schmerzverzerrten Gesichtern im Schweisse ihrer Trainingsanzüge an der Verlängerung des eigenen Lebens arbeiteten, hätten mich nicht weiter beunruhigt, wäre ich nicht im «New Eng-land Journal of Medicine» auf eine Zuschrift gestossen, deren Faszination man sich nur schwer entziehen konnte. Ihr Verfasser war Melvin Hershkowitz, ein Arzt aus Jersey City, N.Y. Diese Zuschrift verdient es, ungekürzt zitiert zu werden:

»Peniserfrierung, eine unvorhergesehene Gefahr des Joggens. - An den Herausgeber: Ein 53jähriger Arzt, beschnitten, Nichtraucher, mässiger Trinker (einen Highball vor dem Dinner), 1,78 m gross, 70 kg schwer, ohne Krankheiten, seit vielen Jahren ein tüchtiges körperliches Training absolvierend, begann seinen gewohnten 30-Minuten-Lauf in einem nahe gelegenen Park am 3. Dezember 1976 um 19.00 Uhr abends. Er trug eine ausgestellte Polyester-Trikot-Hose, Boxer-Shorts aus einem Dacron-Baumwoll-Gemisch, ein baumwollenes T-Shirt und ein baumwollenes Hemd, einen leichten Wollpullover, eine Nylon-Offiziersjacke über dem Pullover, Handschuhe und tiefgeschnittene Pro-Ked-Turnschuhe. Die Nylonjacke fiel leicht über die Gürtellinie. Die Wetterberichte im Radio meldeten für die Gegend eine Aussentemperatur von minus 8 Grad Celsius sowie strengen Frostwind. Von 19.00 bis 19.25 Uhr verlief alles wie gewohnt. Um 19.25 Uhr bemerkte der Jogger eine unangenehme, schmerzvoll brennende Empfindung an der Spitze seines Penis. Von 19.25 bis 19.30 Uhr wurde dieses Unbehagen intensiver, der Schmerz nahm mit jedem Schritt zu, als sich das Training seinem Ende näherte. Um 19.30 Uhr endete der Lauf, und der Patient kehrte nach Hause zurück. Eine körperliche Untersuchung um 19.40 Uhr in seiner Wohnung bei komfortabler Raumtemperatur ergab ein frühes Stadium von Peniserfrierung. Die Eichel war frostig, rot, weich bei Manipulation und gefühllos bei leichter Berührung. Sofortige Therapie wurde in Angriff genommen. Die ausgestellte Polyester-Trikot-Hose und die Unterhose aus Dacron-Baumwolle wurden entfernt. Stehend, die Beine gespreizt, formte der Patient ein Bettchen zur raschen Erwärmung der Penisspitze, indem er sie mit der Innenfläche seiner hohlen Hand bedeckte. Die Reaktion war rasch und umfassend. Die Symptome legten sich 15 Minuten nach Beginn der Behandlung, und der körperliche Befund wurde wieder normal. Nebenwirkungen: Um 19.50 Uhr kehrte die Ehefrau des Patienten vom Einkaufen zurück und beobachtete ihren Mann während der Behandlungsprozedur. Sie sah ihn mit gespreizten Beinen im Schlafzimmer stehen, von der Taille an abwärts nackt, die Spitze seines Penis in der rechten Hand haltend und mit der linken im «New England Journal of Medicine» blätternd. Die ehefrauliche Beobachtung dieser Therapie hatte rasche, zahlreiche, vielfältige und heftige Nebenwirkungen zur Folge (persönliche Mitteilung). Die Pathogenese des Syndroms wurde bestimmt als Gewebereaktion auf hohe Zufuhr von Luft bei minus 8 Grad Celsius, welche die Zwischenräume der ausgestellten Polyester-Trikot-Hose durchdrang und sich ihren Weg bahnte durch die vordere Öffnung der Dacron-Baumwoll-Unterhose, wo sie auf die Rezeptoren des Zielorgans einwirkte und die beschriebenen Veränderungen hervorrief. Der Patient joggt auch weiterhin, doch trägt er ein Suspensorium und alte, enge, baumwollene Wärmehosen, die 1939 im College bei Querfeldein-Rennen benutzt wurden. Rückfälle sind keine zu erwarten.«

Das »New England Journal of Medicine« ist unter den Zeitschriften der Branche das, was ein Bösendorfer unter den Tasteninstrumenten ist. Es war also zu erwarten, dass das amerikanische Blatt der internationalen Fachwelt andere Leckerbissen zu bieten haben würde, und in der Tat, man wurde nicht enttäuscht. Wenige Monate später wusste ein gewisser Fred Levit, Arzt in Chicago, von einem Leiden zu berichten, welches vorab das weibliche Geschlecht befiel, das der neuen Sportart huldigte: entzündete Brustwarzen. Er analysierte das Phänomen als simple Reizung der Brustwarzen infolge von Reibung gegen die Kleidung und wies darauf hin, dass davon Frauen betroffen waren, die beim Joggen keine Büstenhalter trugen. Er riet ihnen, die Brustwarzen vor dem Laufen mit einer fettenden Salbe zu bestreichen oder mit Talk einzupudern, um die Reibung zu reduzieren, sowie Blusen aus glattem Material wie Seide oder Synthetik zu tragen anstelle der T-Shirts.

Dieser Rat indes sollte nicht unwidersprochen bleiben. Nun war eine Debatte in Gang gesetzt, dem Forscherdrang freier Lauf gelassen. Marshall E. Deutsch, ein Kollege aus Bedford, warnte die Leser des Journals entschieden vor der Verwendung von Talkpuder. Talk sei chemisch nah verwandt mit dem krebserzeugenden Asbest und enthalte mikroskopisch kleine Teilchen dieses Stoffes. Der in Japan verbreitete Brauch, den Reis mit einer Mischung aus Talk und Glukose zu bestreuen und vor dem Kochen nicht mehr als dreimal zu spülen, sei vermutlich ein Grund für die Häufigkeit von Magenkrebs unter japanischen Männern. Asbestpartikel seien selbst in herausoperierten Eierstöcken gefunden worden - die Überreste von Talk, mit dem Kondome eingepudert sind.

In derselben Nummer publizierte ein anderer Fachmann, Noel D. Nequin aus Chicago, eine ausführliche Statistik über die Verletzungen, welche sich Marathonläufer zugezogen hatten. Blutende Brustwarzen waren noch das mindeste.

Die Sache begann, ihre Reize zu entfalten. Ich las die Zahlen wie ein Börsenspekulant, der auf dem richtigen Kurs segelt. Es war ganz offensichtlich: je schneller die Leute rannten, desto rascher kamen sie irgendwelcher Gebrechen wegen zum Stillstand. Aber statt dass man daraus den Schluss gezogen hätte, den die Vernunft gebietet - nämlich alles hastige Tun zu lassen und die subtilen Freuden eines kontemplativen Lebens zu geniessen -, wurden nur Ratschläge zur blossen Symptombekämpfung gegeben, wie zum Beispiel das Tragen gut geschnittener weicher, dehnbarer Baumwollbüstenhalter beim Joggen oder das Überkleben der Brustwarzen mit Pflaster.

Ein anderer Leserbrief gab einen Eindruck davon, dass dies alles noch gar nichts sei im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte. Jim Katzel und Aldis Baltins aus Willis, Kalifornien, schilderten den Fall einer 24jährigen Frau, die ihre «Muskelschmerzen» sozusagen wegzujoggen versuchte, bis sie kaum mehr in der Lage war, auch nur noch zu stehen. Beidseitige Ermüdungsbrüche der inneren Schienbeinplateaus wurden diagnostiziert. Ihr wurde empfohlen, künftig Zurückhaltung zu üben, sowohl was das Gehen wie was das Stehen betrifft.

Bei einem unserer Patient waren beim Schnellstart zum Dauerlauf dem jungen Mann beide vorderen Darmbeinhöcker ausgerissen, erst der rechte, ein Jahr später dann der linke. Auf die Frage an den chirurgischen Oberarzt, was der Patient getan habe, um sich solche Frakturen zuzuziehen, antwortete dieser, der junge Mann habe nichts Besonderes gemacht, er sei «nur gerannt». - Eben.

Dass auch Personen, die sich nachweislich von jeder sportlichen Aktivität fernhalten, zu Opfern eines übertriebenen Fitnessbewusstseins werden können, zeigt eine Untersuchung von Janet T. Wallace von der Universität in Bloomington im amerikanischen Bundesstaat lndiana: Wenn Säuglinge nicht gestillt werden wollen, muss man nicht gleich an eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung denken. Ursache kann schlichtweg sein, dass die Muttermilch sauer geworden ist. Bekanntlich erhöht sich nach starker körperlicher Anstrengung die Konzentration von Laktat, dem Salz der Milchsäure, in der Muttermilch. Die amerikanische Forscherin führte Messungen der Laktatkonzentration vor dem Sport, nach mässigem Jogging oder nach leichten Aerobicübungen sowie nach grossen körperlichen Anstrengungen auf einem Laufband an 23 stillenden Müttern durch. Schon leichte Übungen führten zu einem Anstieg der Laktatkonzentration. In 17 Prozent der Fälle wurde eine Konzentration erreicht, die ein Erwachsener im Geschmackstest als sauer empfindet. Folge des mütterlichen Bewegungsdrangs: Die Säuglinge traten in den Hungerstreik.

 

Verfasser: Dr. G. Stuckmann